Jenny Graser’s Note Upon the “Mystic Writing-Pad”

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Jenny Graser during her opening speech for the exhibition Into the Third Dimension at the Städel Museum Frankfurt, February 15, 2017 (image © Elias Wessel and VG Bild-Kunst Bonn with courtesy of the Städel Museum, 2018)

 

Abstrakte Realitäten. Elias Wessel – Die Summe meiner Daten

Feine Rillen, breite Striemen und Schlieren mit spitz gezackten, ausfransenden Enden überziehen die Fotografien von Elias Wessels Zyklus Die Summe meiner Daten aus dem Jahr 2017. Sich figurativen Motiven verwehrend, ist der Mensch dennoch in jedem Bild anwesend. Denn die abstrakten Strukturen gehen auf sich überlagernde, langgezogene Fingerabdrücke zurück, auf taktile Spuren, die von Menschenhand auf den Oberflächen digitaler Geräte wie Smartphones und Tablets hinterlassen wurden. Das abstrakte Liniengewirr entpuppt sich als Spiegel menschlicher Handlungen, als verzerrtes Abbild privater und persönlicher Informationen.

Den Kern der künstlerischen Praxis des seit 2008 als freischaffender Künstler in New York lebenden Fotografen Elias Wessel bildeten von Beginn an der Mensch und dessen Tun. Dabei wurde das natürliche Abbild des Menschen oder seiner Umgebung mal mehr, mal weniger stark verfremdet. Mit den Porträts der Transgender-Ikone Amanda Lepore (*1967) betrat im Jahr 2011 erstmals eine stilisierte, übernatürliche Erscheinung die Bühne von Wessels Bildwelt. Fortan wandte sich der Künstler zunehmend von einer figürlichen bzw. gegenständlichen Bildsprache ab. In der Werkreihe der Landscapes I-VII aus dem Jahr 2014 offenbarte sich vollends das Interesse des Künstlers, den Natureindruck in abstrakte, malerisch anmutende Fotografien zu übersetzen. Hier überführte Wessel durch einen Kameraschwenk die Landschaft und die Häuser der Umgebung von Kursk in abstrakte Liniengebilde. Drei Jahre später avancierte in dem Zyklus Die Summe meiner Daten das Bewegungsmuster eines Fingers zum bildgenerierenden Medium. Beide Werkreihen verbindet miteinander, dass die jeweiligen Bilder aus einem Bewegungsimpuls gewonnen wurden. Zudem ist den Zyklen gemein, dass das Neben-und Übereinander linearer Strukturen Räumlichkeit und darüber hinaus Zeit abbilden, ohne einen perspektivisch konstruierten Raum darzustellen oder ein Narrativ zu entwickeln.


Die Entwicklung der Werkreihe Die Summe meiner Daten geht auf das Jahr 2015 zurück, als sich Wessel vermehrt mit dem Thema der unser aller Alltag einnehmenden Digitalisierung auseinanderzusetzen begann. Ein im darauffolgenden Jahr von Wessel in New York besuchtes Symposium Zur Rolle des Künstlers im digitalen Zeitalter förderte zusätzlich seinen Impuls, sich dem Digitalen in der bildenden Kunst zu widmen. Im Rahmen des Symposiums wurde anhand eines Fallbeispiels aufgezeigt, wie aus wenigen Daten eines Handynutzers ein detailliertes, bis in die Privatsphäre eindringendes Persönlichkeitsbild erstellt werden konnte, wohl bewusst, dass heute persönliche Daten für politische und wirtschaftliche Zwecke gesammelt, ausgewertet und missbraucht werden. Den wohl bekannten Gefahren im Umgang mit digitalen Geräten steht die achtlose und leichtfertige Preisgabe persönlicher Daten diametral gegenüber. Zu abstrakt, zu immateriell und wenig greifbar sind die Datenströme, die aus unseren mediengebundenen Handlungen hervorgehen.


Als Bildquelle für Die Summe meiner Daten nutzte Wessel sowohl die eigenen Fingerabdrücke, die er auf berührungsempfindlichen Bildschirmen hinterlassen hatte, als auch die Abdrücke anderer Personen. Allerdings war allein dem Künstler der tatsächliche Verwendungszweck der Spuren bekannt, sodass die Oberflächenstrukturen nicht aus einem ästhetischen Anspruch heraus herbeigeführt wurden. Zugleich gab der Künstler die Kontrolle über den Gestaltungsprozess bis zu einem gewissen Grad ab und ließ den Zufall in den Werkprozess eingreifen.


Aus den taktilen Experimenten sind drei Bildreihen hervorgegangen, die zusammen den Zyklus Die Summe meiner Daten bilden: Zunächst entstand die Off-Reihe, daraus gingen die Reihen On und B/W hervor. Für die Off-Series hat Wessel die manuellen Spuren auf Displays von Smartphones und Tablets einem dokumentarischen Prozess gleich abfotografiert. Das jeweilige Gerät war dabei, wie der Titel verrät, ausgeschaltet. Die festgehaltenen Strukturen wurden vergrößert und in monumentale Farbfotografien überführt. Für die On-Reihe hat sich Wessel die so gewonnenen Bilder entweder als Gesamtbild oder in Ausschnitten auf dem Bildschirm eines nun eingeschalteten Gerätes anzeigen lassen und dieses Display wieder abfotografiert. Die neuen Spuren auf der Bildschirmoberfläche überlagerten das projizierte Bild, beide Ebenen wurden im fotografischen Prozess miteinander verknüpft. Während Wessel das Display ablichtete, variierte er nun die Lichtsetzung und ließ mitunter farbiges Licht auf den Bildschirm scheinen. Die Fingerabdrücke auf der spiegelnden Oberfläche beeinflussten dabei die Brechung des Lichts und damit die fotografisch festgehaltenen Reflexionen. Nach dem gleichen Prinzip ist die B/W Series entstanden, die auf dem namensgebenden Hell-Dunkel-Kontrast von Schwarz und Weiß beruht. Die On-Serie weist hingegen durch den Einsatz des farbigen Lichts ein facettenreiches Kolorit auf: Aus einer satten grünen Farbfläche tritt ein leuchtendes Rot hervor oder eine milchige weiße Schicht wird von einem kühlen Violett und Blau durchbrochen. Warmes Rot und Gelb durchdringen ein sattes Schwarz, das auf einen undefinierbaren Raum verweist, aus dessen Tiefen ein Lichtschein durchzudringen scheint. Die Off-Series wird von schillernden Braunschattierungen dominiert, die an glänzende Bronze erinnern.


Mit dem Zyklus Die Summe meiner Daten hat Wessel hybride Gebilde geschaffen: Fingerzeichnungen wurden in malerisch anmutende Fotografien übersetzt. Die sich im 20. Jahrhundert entwickelnde Tendenz, die Fotografie mit anderen künstlerischen Medien wie der Malerei zu verbinden und dadurch zu erweitern, kennzeichnet die mittlerweile zehn Jahre umspannende künstlerische Tätigkeit von Elias Wessel. Der Historiker Frank Wolff hat den Künstler treffend als „malenden Fotografen“ beschrieben.


Das abstrakte Linien- und Flächengefüge des Zyklus Die Summe meiner Daten erinnert zuweilen an die Formensprache des Informel, insbesondere an die Gemälde und Zeichnungen von Karl Otto Götz (1914‒2017), der auf der Leinwand wie auch auf Papier seiner inneren Gefühlswelt in einem spontanen, expressiven Gestus Ausdruck verlieh und sich damit von den abstrakten Tendenzen der vorangegangenen Moderne abzugrenzen versuchte. Doch Wessels Arbeiten entspringen nicht aus einer Negation des Figürlichen oder aus einer auflehnenden Haltung. Die Schlieren auf den Fotografien des Zyklus Die Summe meiner Daten gehen auf eine gelenkte Tätigkeit zurück, auf ein funktionales mitunter spielerisches Tun des Menschen im Umgang mit unseren heutigen Kommunikationsgeräten. Die Spuren sind aus der tatsächlichen Benutzung von Smartphones und Tablets hervorgegangen, aus dem Tippen und Wischen, dem Schreiben von E-Mails, SMS oder Whatsapp-Nachrichten, der Buchung von Bahntickets und der Verwendung anderer funktionaler Apps. Mitunter lassen sich die einzelnen Tätigkeiten in den Bildern der Off-Series sogar entschlüsseln.


Häufig benutzen wir unsere digitalen Geräte, ohne daran zu denken, dass unsere im World Wide Web hinterlassenen Spuren auch für Fremde lesbar und damit verwendbar sind. Durch die Abgrenzung zwischen digitalem und realem, zwischen virtuellem und greifbarem Raum scheinen unsere digitalen Daten entschwunden zu sein, so als würde unser digitaler Fingerabdruck wie auf einem Wunderblock im nächsten Moment weggewischt und unsichtbar werden. Das Verfahren des Wunderblocks, eines kleinen analogen Apparates beschrieb Sigmund Freud in seinem Essay Notiz über den Wunderblock im Jahr 1924 folgendermaßen:

„Der Wunderblock ist eine in einen Papierrand gefasste Tafel aus dunkelbräunlicher Harz- oder Wachsmasse, über welche ein dünnes, durchscheinendes Blatt gelegt ist, am oberen Ende an der Wachstafel fest haftend, am unteren ihr frei anliegend. Dieses Blatt […] besteht selbst aus zwei Schichten, die außer an den beiden queren Rändern von einander abgehoben werden können. Die obere Schicht ist eine durchsichtige Zelluloidplatte, die untere ein dünnes, also durchscheinendes Wachspapier. […]
 Man gebraucht diesen Wunderblock, indem man die Aufschreibung auf der Zelluloidplatte des die Wachstafel deckenden Blattes ausführt. Dazu bedarf es keines Bleistifts oder einer Kreide, denn das Schreiben beruht nicht darauf, dass Material an die aufnehmende Fläche abgegeben wird. Es ist eine Rückkehr zur Art, wie die Alten auf Ton- und Wachstäfelchen schrieben. Ein spitzer Stilus ritzt die Oberfläche, deren Vertiefungen die „Schrift“ ergeben. Beim Wunderblock geschieht dieses Ritzen nicht direkt, sondern unter Vermittlung des darüber liegenden Deckblattes. Der Stilus drückt an den von ihm berührten Stellen die Unterfläche des Wachspapiers an die Wachstafel an und diese Furchen werden an der sonst glatten weißlich-grauen Oberfläche des Zelluloids als dunkle Schrift sichtbar. Will man die Aufschreibung zerstören, so genügt es, das zusammengesetzte Deckblatt von seinem freien, unteren Rand her mit leichtem Griff von der Wachstafel abzuheben. Der innige Kontakt zwischen Wachspapier und Wachstafel an den geritzten Stellen, auf dem das Sichtbarwerden der Schrift beruhte, wird damit gelöst und stellt sich auch nicht her, wenn die beiden einander wieder berühren. Der Wunderblock ist nun schriftfrei und bereit, neue Aufzeichnungen aufzunehmen. […] Es ist aber leicht festzustellen, daß die Dauerspur des Geschriebenen auf der Wachstafel selbst erhalten bleibt und bei geeigneter Belichtung lesbar ist.”

Freud verglich den Wunderblock mit dem menschlichen Wahrnehmungsapparat, heute ist eine Analogie zwischen dem Wunderblock und dem World Wide Web unverkennbar: Beide Medien sind unbegrenzt aufnahmefähig und bewahren dauerhaft die Spuren der eingespeisten Chiffren. Doch der virtuelle Raum vergisst nichts. 


In dem Zyklus Die Summe meiner Daten verleiht Wessel den immateriellen Datenströmen des digitalen Zeitalters eine materielle Erscheinung. Er holt die im virtuellen Raum versunkenen Handlungsprozesse des Menschen aus der Unsichtbarkeit an die Oberfläche und lässt sie zu Lichtbildern werden. Durch bildkünstlerische Strategien macht Wessel das scheinbar im Verborgenen des digitalen Wunderblocks Liegende in einem Verbund aus digitaler Fotografie und gestischer Malerei wahrnehmbar. So hat er im kreativen Akt fotografischer Bildfindung eine ganz eigene Bildsprache für das digitale Zeitalter entwickelt. Nach wie vor bildet jedoch die Realität den Ursprung von Wessels künstlerischer Fotografie. Allerdings besitzen die digitale Welt und die mit ihr verknüpften menschlichen Handlungen im Gegensatz zu den bisherigen, von Wessel verwendeten Motiven von vornherein eine abstrakte Erscheinungsform. Diese abstrakte Wirklichkeit spiegelt sich in der ungegenständlichen Bildsprache des Zyklus Die Summe meiner Daten wider. In dieser Werkreihe verbindet sich absolute Abstraktion mit absolutem Realismus.

 

 

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